Derrick Sington: Befreiung des Lagers Bergen-Belsen

 

Bericht von Derrick Sington über die Befreiung des Lagers Bergen-Belsen durch britische Truppen

Quelle: Derrick Sington, Die Tore öffnen sich, Hamburg 1948, S. 26, 28, 41 bis 44, 46f., 74 Derrick Sington gehörte zu den ersten britischen Soldaten, die im April 1945 das Lager Bergen-Belsen betraten. 

[ ... ]
Wir fuhren durch den SS-Hof und stellten unseren Lautsprecherwagen vor dem Drahttor auf, das ins Häftlingslager führte. Indem wir die Lautsprecher auf das Lager richteten, riefen wir erst auf deutsch und dann auf französisch:
"Die Deutschen haben nichts mehr in diesem Lager zu sagen. Das Lager untersteht jetzt der Aufsicht der britischen Armee. Lebensmittel und Medikamente werden sofort herbeigeschafft. Gehorcht unseren Befehlen und Anordnungen. Dadurch helft ihr uns, und das ist die beste Art, euch selbst zu helfen".
Indem wir den Jeeps von Brigadier Hughes und Oberst Taylor folgten, fuhren wir quer durch das Lager, hielten nahe beim Krematorium am anderen Ende und machten die gleiche Lautsprecheranordnungen bekannt. Sie mußte überall hörbar gewesen sein und war der Anfang eines Appells an die Vernunft anstatt an die Furcht. Die menschliche Stimme ersetzte das Gewehr und den Gummiknüppel.



[ ... ]
Unsere nächste Aufgabe war es, alle Gefangenen durch Lautsprecher zusammenzurufen, sie nach Nationalitäten zu gruppieren und jede einzelne Nationalitätengruppe in eine besondere Baracke zu schicken. Das bedeutete, daß wir russische, ungarische, polnische und griechische Sprecher heraussuchen mußten. Allmählich verließen sich die Leute auf ihre Gebäude, und der Platz wurde fast leer. Zum Schluß ergab sich jedoch eine Schwierigkeit.
Wir hatten uns entschlossen, die zwanzig überzähligen SS-Leute in Block 72 unter Bewachung zu stellen. Damit blieb aber immer noch Raum für hundert weitere Personen im Block, und da wir gerade diese Anzahl Zigeuner hatten, wiesen wir ihnen den übrigbleibenden Raum an. Wenige Minuten später kam ein besorgt aussehender kleiner Mann in schwarzem Anzug auf mich zu.
"Warum soll die SS mit uns Zigeunern zusammengelegt werden?" fragte er. "Schließlich sind wir auch Menschen".
Ich brauchte mehrere Minuten, um ihn davon zu überzeugen, daß diese Regelung auf rechnerischen Erwägungen beruhte und keine Herabwürdigung der Zigeuner sei.

[ ... ]
Als unser zweiter Tag begann, gelang es uns, uns ein Bild von der Gestalt des Lagers zu machen. Die Gebäude bestanden aus ungefähr vierzig Baracken, die nur von der SS benutzt wurden, und weiteren achtzig Baracken, die das "Wohnviertel" der Häftlinge darstellten. (Unter den SS-Baracken befand sich die Kleiderkammer, wo die Zebrakleidung an die Gefangenen ausgegeben wurde, ein "Effekten"-lager, wo sich die den Gefangenen abgenommenen Wertsachen angeblich befinden sollten, ein Brausebad, in dem einkommende Gefangene gebadet wurden, ein Geräteschuppen und ein Gefängnis. Es befanden sich dort auch Baracken mit besonderen Annehmlichkeiten für die SS, z. B. eine Kantine mit Bar, eine Apotheke und ein kleines Lazarett, das mit mit Röntgenapparaten, Mikroskopen usw. wohl ausgestattet war.
Bei den Häftlingsbaracken befand sich ein Brotlager, ein Lebensmittellager, eine Baracke, die zweite Garnituren für die SS enthielt, und eine sogenannte Weberei. Einige Baracken waren abseits aufgestellt worden und dienten als Reviere oder Krankenstuben. Sie waren mit Ärzten und freiwilligen Pflegern besetzt, die selbst Gefangene waren.
Das Lager war im ganzen 600 × 300 Meter groß und war mit Stacheldraht umzäunt. Hölzerne Wachtürme, die Betten für die Wachen enthielten, waren in Abständen von 100 Meter rundum errichtet. 
Die meisten der Häftlingsbaracken maßen 35 × 10 Meter und enthielten 400 bis 800 Menschen.
Als wir das Lager betraten, befanden sich etwa 40 000 Männer und Frauen darin (hinzu kamen 10 000 unbeerdigte Leichen); im Hinblick auf erträgliche Lebensverhältnisse hätte es nicht mehr als 8 000 beherbergen dürfen.



Das Schauspiel, das in den Tagen nach unserer Ankunft in einigen der überbelegten Blocks bot, ähnelte Dantes Inferno. Block 48 in dem kleineren Frauenlagern enthielt 600 Jüdinnen aus Polen, dazu kamen etwa 80 Französinnen. Betten gab es nicht, daher hatten die Frauen sich auf eine Decke oder einige Lumpen gelegt und lagen dort Reihe neben Reihe in ihren zerschlissenen Mänteln. In einigen Teilen des Raumes lagen sie mit Köpfen oder Beinen teilweise aufeinander.. Eine kleine abgemagerte Kreatur schlief im Knien, als ich zum ersten Male den Block betrat. Ein ekelerregender Geruch von monatealtem Schweiß und schmutzigen Lumpen stieg von den kranken, schmerzdurchwühlten Leibern auf.
Wenn jemand in britischer Uniform den Block 48 betrat, dann erhob sich zuerst ein Gemurmel und dann gewöhnlich ein Schrei, dem andere Schreie folgen. Manchmal waren es offenbar Bitten um Hilfe, um einen Arzt, Arzneimittel oder Essen, aber oft waren die Äußerungen auch unverständlich.

[ ... ]
Gegen Ende unseres zweiten Tages in Belsen hatten wir die Nationalitätengruppen im Lager ermittelt. Etwa 25 000 von den 40 000 Insassen waren Frauen, und von diesen waren einige 18 000 ungarische, polnische, rumänische, tschechische und deutsche Jüdinnen. Sie stellen einen Teil der Überlebenden des europäischen Judentums, dar und waren in aller Eile in belsen hineingepfercht worden, als die Deutschen durch das Vorrücken der alliierten Armeen aus Ost und West gezwungen wurden, das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau in Polen und die Dutzende von Arbeitsklavenlagern in Schlesien und Norddeutschland zu evakuieren. Der größte Teil dieser jüdischen Frauen stellte die einzigen Überlebenden von Familien dar, die in den Gaskammern von Birkenau und Treblinka umgekommen waren.
Außer den Jüdinnen waren noch 2000 Russinnen in Belsen. Diese Russinnen waren fast alle "Meuterer". Größtenteils waren sie nicht wegen Teilnahme an organisiertem Widerstand gegen die deutsche Besatzung oder wegen Sabotage ins Konzentrationslager gekommen, sondern als Strafe für vereinzelte Akte der Widersetzlichkeit, die sie aus Erbitterung nach ihrer Deportation in Deutschland begangen hatten. Sie waren Zwangsarbeiterinnen, die aus ihrer Heimat verschleppt worden waren und gegen ihre deutschen Herren aufgemuckt hatten.



Eine blonde, breitschultrige Russin, mit der ich sprach, sagte:
"Ich hatte in der Speisehalle der Fabrik, in der ich arbeitete, um eine zweite Portion gebeten. Die deutsche Aufseherin sagte mir, daß mir keine zustehe. da warf ich ihr einen den Teller auf den Kopf". Dies war in einer Flugzeugfabrik bei Metz geschehen.
Außer den Jüdinnen und Russinnen befanden sich in Belsen noch mehrere tausend andere Frauen - hauptsächlich Jugoslawinnen, Polinnen, Französinnen und Belgierinnen -, die von der Gestapo wegen Widerstandes gegen die Deutschen Besatzungsmacht verhaftet worden waren. Ihr Widerstand war mancherlei Art gewesen. Die jugaslawischen Frauen hatten zu den Tito-Partisanen gehört, die Polinnen hatten 1944 an dem Warschauer Aufstand teilgenommen und schon lange vorher Spionage betrieben; die Französinnen hatten die Maquisarden mit Kleidung und Lebensmitteln versorgt, und andere wiederum hatten monatelang britische Pistolen versteckt.
Die 15 000 Männer des lagers fielen im gro
ßen und ganzen unter die gleichen Gruppen: Juden, Meuterer und politische Gefangene; unter den letzteren befanden sich einige Deutsche, die es fertiggebracht hatten, zurückzubleiben, als die 600 Deutschen in Belsen von der SS davongetrieben wurden.
Das waren die Lebenden in Belsen, von denen mehr als ein Viertel im laufe der nächsten vier Wochen sterben solle.
An diesem zweiten Tage entdecken wit auch die zahlreichen Toten.




[ ... ]
Aus irgendeinem Grunde hatte die SS einige Zeit vor Ankunft der britischen Truppen ihre Methode zur Beseitigung der Leichen geändert und wenigstens ein Massengrab ausgehoben und gefüllt.
Aber trotz dieser Bemühungen hatte das Problem der zunehmenden Leichenhügel die SS überwältigt, so da
ß nach unserer Ankunft im Lager 10 000 unbeerdigte Leichen auf dem Bodem lagen.
Was von der SS getan werden konnte, um die unbeerdigten Leichen zu verbergen, hatte sie getan. Die Hauptstra
ße des Lagers war gesäubert worden. Die Insassen waren gezwungen worden, ihre Toten in Lichtungen zu verbergen, die rings von Bäumen abgeschirmt waren, oder auch am äußersten Ende der Höfe, möglichst weit von der Hauptstraße entfernt lagen.
[ ... ] 
Am zweiten Tag unseres Aufenthalts in Belsen wurde jedoch der Anblick der Sterbenden womöglich nich herzzerreißender als der Toten. Vor der langen Holzbaracke, die als SS-Kantine gedient hatte, befand sich ein Rasendreieck. Gegen Mittag sah ich einen Mann in schäbigem blauen Anzug, dessen Rockkragen aufgeschlagen war, langsam dorthin gehen und niedersinken. Sein Gesicht war halb vom Hut verdeckt, und er lag mit ausgestrecktem Arm auf der Seite. Er hätte ein Vagabund oder ein Obdachloser vom Themseufer sein können oder einfach ein Mann, der in der Sonne schlief. Tatsächlich war er jedoch zu schwach geworden, um noch weiterzugehen, und hatte entweder keinen Einlaß in die überfüllten Krankenreviere bekommen oder es nicht einmal versucht, und hatte also in einem Block gelebt, wo sich niemand um die Schwachen und Kranken kümmerte. Jedenfalls war er an jenem Punkt des steten Abgleitens angelangt, das, falls er nicht Glück hatte, in einen ruhigen Tod vor Hunger und Schwäche führen würde.




Wenn man durch das Lager ging, bemerkte man Dutzende dieser ausgestreckten Männer. Sie lagen meist am Rande der Hauptstraße, am dichtesten auf einer Böschung, die sich bei einem niedrigen Treibhaus herabsenkte, in dem Gemüse füf die SS herangezogen worden war. Diese Männer, deren Leben langsam versickerte, lagen an der Hauptstraße, weil sie von dort nicht so weit zum Wasser hatten, das nun an verschiedenen Punkten einem Schlauch entnommen werden konnte, der die Straße entlang gelegt worden war. Vielleicht auch nur deswegen, weil diese Böschung den Mittelpunkt des Lagers bildete, so daß sie ein Freund dort leichter finden und ihnen Hilfe bringen konnte. Diese langsam sterbenden Männer wurden in der finsteren, treffenden Lagersprache "Muselmänner" gennant. Und tatsächlich glichen diejenigen, die die lose sitzende gestreifte Häftlingskleidung trugen, mit ihrem viele Tage alten Stoppelbart, ihrem geschorenen Köpfen und schlenkriegen, abgemagerten Leibern, ihren starrenden Augen und ihrer Lethargie arabischen Bettlern, die ich einmal vor langer Zeit am Kai von Aden faulenzen und sich sonnen sah.




[ ...] 
Ich sah einen Jeep durch die Hauptstraße des Lagers fahren. Neben dem Fahrer saß Josef Kramer, mit entblößtem Kopf, die gefesselten Hände auf den Knien. Sein Hemd blähte sich im Winde. Er hatte sich vornübergelehnt, vielleicht in der Bemühung, sich den Blicken zu entziehen, und blickte unverwandt geradeaus. Zwei britische Soldaten auf dem Rücksitz hatten ihre Maschinenpistolen auf sein Rückgrat gerichtet. Der Jeep fuhr durch das ganze Lager, und ich konnte das Geheul von Freude und Haß hören, das ihn begleitete. Kramer wurde nicht mehr in Belsen gesehen.

Fragment tekstu pochodzi z książki "Konzentrationslager Bergen-Belsen: Berichte und Dokumente. 
Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1995

Zdjęcia z Miejsca Pamięci Bergen-Belsen wykonałam w lipcu 2025 roku.


Zobacz też:

Komentarze


Popularne posty:

Translate